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Minor Intrusion

Jonathan Mink

Wenn der gut geölte Rotationsdruck einer Zeitung ein Orchester ist, dann ist Leni Hoffmann die Jazz-Bassistin, die auf dem Maschinenlärm improvisiert. Pizzicato beschreibt den Spielstil eines Streichinstrumentes, bei dem der oder die Musiker:in zupft, anstatt den Bogen zu nutzen, um die Seiten (Saiten) zu spielen. Bei Leni Hoffmann bedeutet das CMYK Farbspuren auf der Ausgabe einer Tageszeitung zu hinterlassen.

Zeitungen werden im Rotationsdruck hergestellt. Das bedeutet, dass eine endlose Papierbahn durch die Druckmaschine läuft, die die Informationen trägt, die am jeweiligen Tag die Leser*innen erreichen sollen. Am Ende des Produktionsprozesses wird das Papier in individuelle, allerdings identische Zeitungen geschnitten und gefaltet. In diesen reibungslosen Ablauf interveniert Leni Hoffmann, indem sie, auf der Druckmaschine stehend, Druckfarben (CMYK = Cyan, Magenta, Yellow, Black) in Reinform auf die unter ihr hindurchschiessende Papierbahn giesst. So wird jede der ausgelieferten Zeitungen zu einem Unikat, noch bevor sie die Druckhalle verlässt.

Eigentlich werden uniforme Drucksachen erst in unserer Verwendung zu Unikaten. Wir schreiben uns mit allen Spuren und Zeichen, die wir auf ihnen hinterlassen, in sie ein. Jetzt haben wir allerdings, schon bevor wir Orangenmarmelade auf dem Wetterbericht verschmieren, ein Unikat von Leni Hoffmann in der Hand. Dabei wollten wir doch nur eben mal nachlesen, wie der VfB gespielt hat. Jetzt wird allerdings in unser Frühstück interveniert. Leni Hoffmann macht ganz ruhig den Vorschlag, sich mal über etwas anderes Gedanken zu machen als die Spielergebnisse des VfB, die Verfehlungen von Lokalpolitiker*innen oder was da eben noch so drinsteht, in der Zeitung. Allerdings müsste man vielleicht sagen: auch. Sie macht den Vorschlag, sich auch über etwas anderes Gedanken zu machen. Denn ihre Farbintervention tilgt nicht etwa die in der Zeitung versammelten Informationen. Sie läuft mit, sie existiert parallel. Hier kommt die wunderbare, liebevolle Radikalität zum Tragen, die ich immer wieder in der Arbeit von Leni Hoffmann finde. Eine Radikalität, die sich, ruhig, aber bestimmt, in der Mitte der Gesellschaft positioniert. Eine von Euch, unter Euch, mit Euch.

Es ist wichtig, dass diese Intervention eben gerade nicht im Kunstforum, im Monopol oder in der Vogue passiert, sondern in der Stuttgarter Tageszeitung. Und eben gerade nicht so, dass man nicht mehr lesen kann, wie der VfB gespielt hat. Sie hebt die Zeitung auch nicht aus ihrer natürlichen Funktionssphäre der Informationsverbreitung, indem sie durch ihren künstlerischen Eingriff zu einem (Luxus-)Objekt wird, das eines besonderen Schutzes bedarf. Die Ausgabe wird ganz normal an die Abonnent:innen ausgeliefert, am Kiosk verkauft und benutzt, um Schuhe zu trocknen oder Fenster zu wischen. Die Kunst schwebt nämlich, so verstehe ich Leni Hoffmanns Haltung, nicht über den Dingen. Sie ist nicht wichtiger als anderes. Aber sie ist genauso wichtig! Sie ist, genau wie Sport oder Politik, integraler Bestandteil unserer Gesellschaft, und sollte als solcher begriffen werden, oder mehr noch, als verbindener Teil des Diskurs‘ . Das ist eben kein «arty-farty, up ist on arse bullshit»(Blindboy Boatclub). Die Arbeit darf von allen gesehen, verschmäht, diskutiert, ignoriert oder bewundert werden. Pizzicato stellt nur eine der vielen Gesten dar, mit denen Leni Hoffmann bisher in unterschiedlichsten Räumen interveniert hat.

UBIK ist nicht nur Titel von Leni Hoffmanns Ausstellung, sondern auch Titel eines Romans des Science-Fiction-Autors Phillip K. Dick. In dem Roman bewegen sich Objekte rückwärts in der Zeit. Sie entwickeln sich zurück in, historisch gesehen, frühere Formen ihrer selbst. Dies geschieht jedoch asynchron, sodass gewissermassen eine Gleichzeitigkeit von verschiedenen Epochen und Zeiten entsteht. Das gleiche sehen wir auch in Leni Hoffmanns Ausstellung. Zwar versammeln sich hier Arbeiten aus unterschiedlichen Zeiten, sie werden jedoch immer wieder aktualisiert. Wolfgang Ernst schreibt in seinem Buch Das Rumoren der Archive – Ordnung aus Unordnung jedem Teil eines intakten Archives eine «potentielle Aktualität» zu. Diese Überlegung wird in Leni Hoffmanns Ausstellung eingelöst. Ihr Archiv, bestehend aus eigenen und fremden Drucksachen, Versatzstücken von Arbeiten, Techniken und Ideen, wird hier aktiviert, neu kombiniert und im Nachgang wieder mit den so neu entstandenen Werken angereichert. UBIK fungiert als Versammlung von dem, was gewesen ist, von dem was jetzt ist und von dem was einmal sein könnte. Ubik selbst steht in der Geschichte von Dick für die unterschiedlichsten Dinge. Mal ist es ein Spray, mit dem sich die geschichtliche Rückentwicklung aufhalten lässt, mal sind es Rasierklingen oder gar Gott. In meiner Deutung ist Ubik das Leben selbst. Und wenn Leni Hoffmann nun ihre Ausstellung UBIK_un pezzolino da cielo (ein Stückchen des Himmels) nennt, dann sehen wir vielleicht das: Das Leben, ein Stückchen des Himmels.

Die Ausstellung UBIK_un pezzolino da cielo von Leni Hoffmann ist noch bis zum 25.08.2024 in der Städtischen Galerie Karlsruhe zu sehen.